Ein Schlaganfall gehört zu den zerebrovaskulären Krankheiten (ICD-10: I60-I69), der weltweit die zweithäufigste Todesursache und eine Hauptursache von Behinderungen im Erwachsenenalter ist (Mader & Schwenke, 2020). Durch einen Schlaganfall sind die Sprach- und Sprechfunktionen häufig betroffen und 20 % der Schlaganfallpatient*innen leiden an chronischer Aphasie, Dysarthrie und/oder zentrale faziale Parese (Mader & Schwenke, 2020, Breitenstein et al., 2017). Die Störungen wirken sich direkt auf die Kommunikation aus und führen häufig zu sozialer Isolation (Nätterlund, 2010). So führt die Aphasie z. B. zu massiven Einbußen in der Lebensqualität, die dauerhaft signifikant niedriger ist als bei einer Krebs- oder Alzheimererkrankung, bei einem Schlaganfall ohne Sprachstörung oder bei Gesunden (Lam & Wodchis, 2010). Durch eine logopädische/sprachtherapeutische Versorgung soll diesen negativen Folgen entgegengewirkt werden. Doch gerade die mit der SARS-CoV2-Pandemie verbundenen Einschränkungen, z. B. zum Social Distancing, gehen entgegen den eigentlichen Therapiezielen bei Sprech- und Sprachstörungen nach Schlaganfall und können die Lebensqualität weiter einschränken. Daher ist es besonders relevant diese Zielgruppe auch in Ausnahmesituationen zu erreichen. Erste nationale Studien zeigen, dass Videotherapie das Therapieangebot aufrechterhalten und damit die Versorgung der Patient*innen auch in Pandemiezeiten sicherstellen konnte (Barthel et al., 2021; Bilda et al., 2020; Schwinn et al., 2020a/b).

Breitenstein et al. (2017) konnten für Patient*innen mit chronischer Aphasie zeigen, dass unabhängig vom Therapieansatz (sprachsystematisch oder kommunikativ) die Therapiefrequenz der entscheidende Erfolgsfaktor in der logopädischen/sprachtherapeutischen Versorgung auf die verbale Kommunikation und die Lebensqualität ist. Dies erfordert jedoch längerfristig die Erhöhung von Kontaktzeiten in der ambulanten logopädischen/sprachtherapeutischen Versorgung und damit einhergehend eine Erhöhung von Ressourcen und Kosten. Hier sind innovative Konzepte gefragt, welche den Therapieprozess dauerhaft begleiten und die Frequenz sowohl im logopädischen/sprachtherapeutischen Alltag als auch in Ausnahmesituationen wie der SARS-CoV2-Pandemie steigern, um die Lebensqualität der Patient*innen nachhaltig zu verbessern.

Hier setzt das Projekt HiSSS an, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Therapie von Sprach- und Sprechstörungen nach Schlaganfall sowohl in Normalzeiten als auch in Ausnahmesituationen um ein hybrides Interaktionsformat zu erweitern. Kern des Projektes soll eine komplexe, App-basierte logopädische/sprachtherapeutische Versorgung darstellen, die bestehende und neuartige sowohl synchrone als auch asynchrone therapeutische Elemente integriert. Zu den neuartigen Elementen gehören hier die über die Sensoren des Endgeräts mögliche automatische Analyse der erfassten Audiosignale (Spracherkennung) sowie Videosignale (Erkennung der Mundbewegungen/Gesichtslähmungen) und die Verwendung dieser Analyseergebnisse in der Therapie. Alle Elemente sind Bestandteil einer logopädischen/sprachtherapeutischen Interaktion, die sich in der Präsenz- und Videotherapie aber auch im Eigentraining wiederfinden. Ein solches technikgestütztes Therapiesystem für Schlaganfallpatient*innen mit erworbenen und chronischen Sprach- und Sprechstörungen bietet hier eine potenzielle Lösung, kann Barrieren abbauen, die Versorgung auch in Ausnahmesituation sicherstellen und zudem die Therapieintensität unabhängig der aktuellen Lebenssituation erhöhen. Dadurch wird eine situationsangepasste Logopädie/Sprachtherapie ermöglicht, in der flexibel auf die Bedarfe der Patient*innen und die realen Bedingungen reagiert werden kann, um die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Patient*innen zu stärken. Dies unterstützt den individuellen Aktivitäts- und Partizipationsbezug im Wohn- und Lebensumfeld, der in der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2005) und im SGB IX gefordert wird.

Unsere Thematische Zielsetzung

Forschungsfragen

Ausgehend von den oben skizzierten Problematiken wird das Projekt HiSSS die folgenden Forschungsfragen untersuchen:

  1. Wie kann Patient*innen mit Sprach- und Sprechstörungen nach einem Schlaganfall eine interaktive logopädische/sprachtherapeutische Versorgung als technologiebezogene Lösung angeboten werden?

  2. Wie kann die Logopädie/Sprachtherapie für Patient*innen nach Schlaganfall technikbasierte Anwendungen wie die optische Erkennung der Mundbewegungen (Facial Landmark Detektion, FLD) und die automatische Spracherkennung (Automatic Speech Recognition, ASR) einsetzen, um ein hochfrequentes, individuelles und zielführendes Therapieangebot sicherzustellen?

  3. Wie können die technische Stabilität und der Datenschutz eines interaktiven Therapiesystems, das synchrone und asynchrone Elemente integriert, gewährleistet werden.

 

Anwendungsschwerpunkte

Das Projekt HiSSS zielt darauf, ein interaktives Therapiesystem umzusetzen, das es ermöglicht, die Therapiefrequenz zu erhöhen und zugleich auch in Pandemiezeiten aufrechtzuerhalten, um so die Lebensqualität der betroffenen Menschen nachhaltig zu verbessern. Durch den hybriden Ansatz und die zielgruppenorientierte Umsetzung soll die Integrität in die logopädische/sprachtherapeutische der Patient*innengruppe ermöglicht, Barrieren für die Nutzer*innengruppen abgebaut und eine individuelle, bedarfsorientierte Logopädie/Sprachtherapie sowohl realweltlich als auch digital umgesetzt werden. Die Erfassung von Audiosignalen sowie die Erfassung der Mundbewegungen über das Mikrofon und die Kamera des mobilen Endgerätes ist prinzipbedingt schon kontaktlos und ermöglicht so neben der Integration von automatischem Feedback als wichtiger Therapiebestandteil auch hybride Interaktionsformen, die zur Reduzierung von menschlichen Kontakten beitragen können. Die Sprach-, Sprech- und Gesichtsanalyse ermöglicht zudem auch neue multimodale Interaktionsformen. Des Weiteren bietet das System die Möglichkeit, die Therapieinhalte in den Alltag der Patient*innen einzubetten und teilhabebezogen abzustimmen.